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Edmund de Waals „Der Hase mit den Bernsteinaugen“

Ein Roman der mich Wien mit anderen Augen sehen lässt.

„Wie pfiffig von den Wienern, eine Phobie für ihre neue Stadt zu erfinden.“

Edmund de Waal, Der Hase mit den Bernsteinaugen

Cover Letztes Jahr verteilte die Stadt Wien 100.000 Gratis­exemplare dieses Buches. Erst heuer – wie weiß ich nicht mehr genau – wurde ich darauf aufmerksam und kann es allen Wienern nur wärmstens empfehlen! Seitdem ich es gelesen habe, sehe ich die Ringstraße mit anderen Augen und bleibe öfters stehen, weil sich mir so viele Details eröffnen, die ich zuvor schlicht nicht sehen konnte.

Allerdings, diese Straße ist so ambitiös, dass einem die Luft wegbleibt, atemberaubend imperial in ihrer Anlage. Sie ist so breit, dass ein Kritiker während der Bauzeit monierte, sie habe eine ganz neue Neurose geschaffen, die Agoraphobie. Wie pfiffig von den Wienern, eine Phobie für ihre neue Stadt zu erfinden.

Kaiser Franz Joseph hatte angeordnet, rund um Wien eine mo­derne Metropole entstehen zu lassen. Die mittelalterlichen Stadt­mauern sollten abgerissen, die Gräben aufgefüllt und ein großer Bogen neuer Gebäude, ein Rathaus, ein Parlament, ein Opernhaus, ein Theater, Museen und eine Universität errichtet werden. Dieser Ring sollte mit dem Rücken zur alten Stadt entstehen und in die Zukunft blicken, ein Ring des bürgerlichen und kulturellen Ge­pränges, ein Athen, eine Kulmination von Prachtbauten.

Diese Gebäude würden in verschiedenen Baustilen errichtet werden, doch das Ensemble würde das Heterogene in ein Ganzes zusammenfügen, den grandiosesten öffentlichen Raum Europas, ein Ring mit Parks und offenen Flächen; der Heldenplatz, der Burggarten und der Volksgarten würden mit Statuen geschmückt werden, um die höchsten Errungenschaften in Musik, Poesie und Drama zu feiern.

Für ein solches Schauspiel war ein enormer technischer Auf­wand vonnöten. Zwanzig Jahre lang nur Staub, Staub, Staub. Wien, so der Schriftsteller Karl Kraus, wurde »zur Großstadt demoliert«.

12. Die Potekimsche Stadt, Edmund de Waal, „Der Hase mit den Bernsteinaugen“


Das Buch erzählt auch gut nachvollziehbar wie eine Börsenrally mit anschließendem Börsenkrach im vorletzten Jahrhundert, den Antisemitismus gefördert und in weiterer Folge dann im letzten Jahrhundert den Nationalsozialismus möglich gemacht hatte. „Kapitalismuskritik“ und die Wichtigkeit sozialer Gerechtigkeit werden durch die sachliche aber dennoch niemals distanzierten Schilderungen der damaligen Lebensumstände leicht verständlich. Der Autor urteilt nicht, er beschränkt sich darauf eine Geschichte und damit Geschichte zu erzählen. Das Buch kippt niemals ins Belehrende.

Hier in Wien laufen die Auseinandersetzungen über die Juden der Zionstraße hinter den grandiosen Fassaden ihrer Palais auf andere Weise ab. Hier, so heißt es, seien die Juden so assimiliert, hätten ihre nicht-jüdischen Nachbarn so geschickt nachgeahmt, dass sie die Wiener überlistet hätten und einfach im Gewirk des Rings verschwunden seien.

In Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« grübelt der alte Graf Leinsdorf über dieses Verschwinden nach. Die Juden hätten das gesellschaftliche Leben in Wien durcheinandergebracht, da sie ihren pittoresken Wurzeln nicht treu geblieben seien. »Die ganze sogenannte Judenfrage wäre aus der Welt geschafft, wenn die Juden sich entschließen wollten, hebräisch zu sprechen, ihre alten eigenen Namen wieder anzunehmen und orientalische Kleidung zu tragen … Ich gebe zu, daß ein soeben erst bei uns reich gewordener Galizianer im Steireranzug mit Gamsbart auf der Esplanade von Ischl nicht gut aussieht. Aber stecken Sie ihn in ein lang herabwallendes Gewand … Sie sollen sehen, wie diese … auf unserer Ringstraße spazieren gehen, die dadurch so einzigartig auf der Welt dasteht, daß man auf ihr inmitten der höchsten west­europäischen Eleganz, wenn man mag, auch einen Mohammedaner mit seinem roten Kappl, einen Slowaken im Schafpelz oder einen Tiroler mit nackten Beinen sehen kann!«

In den Slums von Wien, in der Leopoldstadt, kann man beobachten, wie Juden leben sollten, zu zwölft in einem Zimmer, ohne Wasser, auf der Straße ist es laut, sie tragen die richtigen Gewänder, sprechen die richtige Mundart.

12. Die Potekimsche Stadt, Edmund de Waal, „Der Hase mit den Bernsteinaugen“


Die Ursprünge der im Roman beschriebenen Familie Ephrussi reichen bis in die ukrainische Hafenstadt Odessa zurück, wo der Grundstein für ihren Reichtum gelegt wurde. Im Kontext des Krieges in der Ukraine, gewinnt das Buch zusätzlich an Aktualität und Relevanz für dessen Hintergründe.

Wenn dieses besondere Haus in dieser besonderen Straßen­landschaft ein wenig bühnenhaft wirkt, dann war das beabsichtigt. Diese Häuser in Paris und Wien gehörten zu einem Familien­plan: Die Familie Ephrussi ging nach dem Rothschild-Muster vor. So wie die Rothschilds […] hatte der Abraham meiner Familie, Charles Joachim Ephrussi, in den 1850er Jahren diese Expansion von Odessa aus in die Wege geleitet. […]

Die Stadt Odessa lag im Ansiedlungsrayon, jener Gegend an der Westgrenze des Zarenreichs, wo Juden sich niederlassen durften. […] Charles Joachim Ephrussi hatte durch Weizenaufkäufe in großem Maßstab aus einem kleinen Getreidehandel ein riesiges Unternehmen gemacht. Er kaufte das Getreide bei Mittels­männern die es auf Karren über zerfurchte Feldwege von der fetten schwarzen Erde der ukrainischen Weizenfelder, den größten der Welt, in den Hafen von Odessa transportierten. Hier wurde das Korn in Speichern gelagert und dann über des schwarze Meer die Donau hinauf oder über das Mittelmeer weiterverschifft.

1. Le West End, Edmund de Waal, „Der Hase mit den Bernsteinaugen“


Siehe auch

Gerhard Loibelsbergers „Alles Geld der Welt“ handelt ebenfalls von der Gründerzeit und dem Börsencrash von 1873.

Die Regulierung des →Wienflusses datiert aus dieser Epoche.

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