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Grundrechte in der Pandemie: Zwischen Schutzpflicht und Selbstbestimmung
Von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zur österreichischen Impfpflicht.
Inhalt
Neulich in einer Gesprächsgruppe zur Aufarbeitung der COVID-19 Krise, wurde die Frage gestellt:
Sollen Grundrechte in einer Notsituation vorübergehend eingeschränkt werden dürfen?
Es folgte eine hochinteressante Diskussion mit einer für mich überraschenden Erkenntnis. Doch der Reihe nach.
Die Entwicklung der Menschenrechte
Beginnen wir mit einem kurzen Rückblick, wie genau es dazu kam, dass wir über Grundrechte überhaupt diskutieren können.
Am 10. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die erste weltweit gültige Regelung von Menschenrechten. Sie enthält 30 Artikel zur Wahrung der Freiheit, Gleichheit und Würde aller Menschen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) ist kein Gesetzestext, sondern eine Liste von gemeinsamen Werten. Die meisten Staaten haben aber die Menschenrechte in ihrer Verfassung verankert. In Österreich sind sie als Grundrechte in der Bundesverfassung enthalten.
Diese Menschenrechte fielen nicht vom Himmel sondern wurden im Laufe der Zeit erkämpft und (weiter)entwickelt. Diese Entwicklung lässt sich in drei Generationen unterteilen, die jeweils unterschiedliche historische Motivationen und Schutzrichtungen widerspiegeln.
Erste Generation: Freiheitsrechte und Schutz vor dem Staat
Die erste Generation der Menschenrechte entstand zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert als Reaktion auf absolutistische Herrschaftssysteme. Die zentrale Motivation war der Schutz individueller Freiheit vor staatlicher Willkür.
Diese Rechte sind als Abwehrrechte konzipiert und sollen dem Individuum Schutz vor staatlichen Eingriffen gewähren. Dazu gehören fundamentale Rechte wie das Recht auf Leben, das Folter- und Sklavereiverbot, Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Auch politische Teilhaberechte (z.B. das Wahlrecht) gehören zur ersten Generation. Sie ermöglichen den Menschen eine direkte oder indirekte Beteiligung an der Politik.
Zweite Generation: Sozialrechte und Absicherung durch den Staat
Die zweite Generation der Menschenrechte entwickelte sich im Kontext der Industrialisierung und sozialer Verwerfungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die zentrale Motivation war die Absicherung durch den Staat. Diese Rechte entstanden aus der Erkenntnis, dass formale Freiheitsrechte ohne materielle Grundlagen oft leer bleiben. So kann ein allgemeines Wahlrecht von Bürgern, ohne ausreichende Bildung und Zugang zu Informationen, nicht sinnvoll ausgeübt werden.
Diese zweite Generation umfasst wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und ist als Leistungsrechte ausgestaltet. Sie gewähren dem Individuum einen Anspruch auf entsprechende Leistungen durch den Staat.
Zu den Rechten der zweiten Generation gehören das Recht auf soziale Sicherheit, angemessene Ernährung, bezahlte Arbeit, Bildung und Teilhabe am kulturellen Leben und natürlich Gesundheit. Der Staat muss hierbei aktive Schritte setzen, um diese Rechte zu verwirklichen.
So lautet der Artikel 25 der AEMR
Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
Dritte Generation: Kollektivrechte und Ansprüche der Völker
Die dritte Generation der Menschenrechte kam in den 1970er Jahren mit dem Ende der Kolonisierung und der darauf folgenden Kräfteverschiebung in der UN-Generalversammlung auf. Die zentrale Motivation waren Ansprüche der Völker gegeneinander. Sie umfasst Rechte, die nicht mehr (nur) Individuen zukommen, sondern kollektiven Entitäten als solchen.
Diese Generation beinhaltet Rechte wie das Recht auf Entwicklung, auf Frieden oder auf eine gesunde Umwelt. Für die nachfolgende Diskussion sind sie aber nicht von Bedeutung und wurden nur der Vollständigkeit hier erwähnt.
Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Rechten
Die drei Generationen der Menschenrechte bilden eine unteilbare und komplementäre Einheit. Menschenrechte bedingen sich gegenseitig, stehen aber auch in einem Spannungsverhältnis zueinander. So kann beispielsweise ein überbordender Sozialstaat die Erwerbsfreiheit Einzelner unverhältnismäßig einschränken.
Gesetzgebung und Rechtssprechung sind regelmäßig damit befasst, den Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Grundrechten Grundrechte (EMRK) sind im Gegensatz zu Menschenrechten (AEMR) einklagbar. zu finden. Ein anschauliches Beispiel liefert die VfGH-Entscheidung E 2908/2023 vom 7. März 2024, bei der die Meinungs- und Pressefreiheit gegen den Schutz der Menschenwürde abgewogen werden musste. Schauen wir uns dieses Beispiel einmal genauer an.
Der Sachverhalt: ServusTV und die Terroranschlag-Berichterstattung
Am Abend des 2. November 2020 strahlte ServusTV (Red Bull Media GmbH) in der Sendung »Servus Nachrichten Spezial« eine Live-Berichterstattung über den Terroranschlag in Wien aus. Dabei wurden von Dritten aufgenommene Videos und Fotos gezeigt, die den Schusswechsel des Attentäters mit Polizisten, die medizinische Versorgung von schwerverletzten Passanten und die Leiche des Attentäters zeigten. Diese Ausstrahlung erfolgte entgegen dem Aufruf der Landespolizeidirektion Wien, keine Bilder oder Videos der Geschehnisse in sozialen Medien zu posten.
Die behördliche Feststellung
Die Kommunikationsbehörde Austria (KommAustria) stellte mit Bescheid fest, dass ServusTV gegen § 30 Abs. 1 des Audiovisuelle Mediendienste-Gesetzes (AMD-G) verstoßen hatte, weil die Berichterstattung die Menschenwürde der Betroffenen nicht geachtet habe. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diese Auffassung.
Die Grundrechtsabwägung des VfGH
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hob diese Entscheidung auf und stellte fest, dass ServusTV durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsäußerungs- und Rundfunkfreiheit verletzt worden war.
Der VfGH führte eine Abwägung zwischen zwei fundamentalen Grundrechten durch:
Auf der einen Seite: Das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit nach Art. 10 EMRK. Massenmedien haben die wichtige Aufgabe, Informationen über Fragen von öffentlichem Interesse zu verbreiten.
Auf der anderen Seite: Das Recht auf Persönlichkeitsschutz und Menschenwürde nach Art. 8 EMRK, das die angeborenen Rechte eines Menschen schützt, einschließlich körperlicher Unversehrtheit, Freiheit, Ehre und Privatsphäre.
Das Verfassungsgericht entschied, dass bei der Abwägung der Grundrechte auch der Gegenstand der Berichterstattung eine entscheidende Rolle spielt. Im Fall eines Terroranschlags von außergewöhnlicher gesellschaftlicher Bedeutung wog das öffentliche Informationsinteresse und die Pressefreiheit schwerer als die Bedenken bezüglich der Menschenwürde. Hätte ServusTV in diesem Stil über einen Fall von häuslicher Gewalt berichtet, wäre der Spruch der Verfassungsrichter wohl anders ausgefallen, da das öffentliche Interesse daran nicht gegeben wäre.
Grundrechtsabwägungen während der Pandemie
Damit zurück zur Frage, ob in einer Notsituation Grundrechte vorübergehend eingeschränkt werden dürfen.
Zunächst einmal fällt auf, dass »Notsituation« ein dehnbarer Begriff ist. Meiner Ansicht nach liegt eine Notsituation aber jedenfalls vor, wenn Grundrechte in Gefahr sind. Im konkreten Fall einer Pandemie war zunächst einmal das Recht auf Gesundheit gefährdet. Denn Artikel 25 der AEMR verpflichtet die Staaten auch dazu, Krankheiten zu bekämpfen und die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Um dieses Recht weiterhin zu gewährleisten, wurde beispielsweise das Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt. So betrachtet wurden nicht »die Grundrechte« eingeschränkt sondern verschiedenen Grundrechte wurden vorübergehend unterschiedlich gewichtet.
Und jetzt wird es spannend: Artikel 5 der AEMR (Folterverbot) lautet:
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Dieser Artikel 5 kann auch als Schutz vor Zwangsbehandlungen ausgelegt werden. Diese Ausdehnung des Art. 5 ist jedoch umstritten, denn während das Folterverbot absolut gilt sind medizinische Zwangsbehandlungen unter Umständen zulässig. Während wir uns relativ leicht tun, vorübergehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Tausch gegen das Recht auf Überleben zu akzeptieren, ist die Situation beim Impfpflichtgesetz schon deutlich schwieriger. Denn hier stehen zwei hochrangige Rechte zueinander in Konflikt. Auch technisch bedingt wirken Verletzungen eines jeden dieser beiden Rechte nicht nur temporär: Wenn mich das Virus einmal ins Grab befördert hat, bleibe ich dort für länger; sinngemäß das Gleiche gilt für Impfschäden. Das ist also schon eine heikle Abwägung.
Schlussfolgerungen
Um die Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen während der Pandemie zu beurteilen, muss zunächst einmal klar dargelegt werden, welche der verschiedenen Maßnahmen für die Grundrechtsverletzung verantwortlich sein könnte.
Die Ansicht, mit den Lockdowns wären »die Grundrechte« eingeschränkt worden, ist trotz ihrer weiten Verbreitung nur die halbe Wahrheit und damit irreführend. Das Recht auf ein weiterhin funktionierendes Gesundheitssystem aber auch auf den Schutz vor Infektionen mit potentiell schwerwiegenden Konsequenzen, sind genauso – wenn nicht gar die wichtigeren! – Grundrechte.
Anders stellt sich die Situation beim Impfpflichtgesetz dar. Hier müssten wohl vor allem wissenschaftlich gesicherte Gründe vorliegen und alle anderen Alternativen ausgeschöpft sein. Um zu klären, ob dem in den Jahren 2020 ff so war, müsste meines Erachtens neben dem damals verabschiedeten und später wieder aufgehobenen Gesetz auch die empirische Evidenz im Verlauf der Pandemie genauer betrachtet werden. Der Verfassungsgerichtshof hat im Juni 2022 jedenfalls entschieden, dass das Impfpflichtgesetz unter den damaligen Umständen verfassungskonform war. Wer also auf der Sichtweise bestehen möchte, dass seine Grundrechte mit dem Impfpflichtgesetz verletzt wurden, müsste zunächst einmal diese Erkenntnis des VfGH schlüssig widerlegen.
Quellen
Vereinte Nationen. Generalversammlung. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 🌐
Verfassungsgerichtshof Österreich. E 2908/2023-14. 7. März 2024 🌐
Verfassungsgerichtshof Österreich. Die Impfpflicht ist angesichts der geltenden Nichtanwendung verfassungskonform 🌐
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