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Zum Phänomen des »guten Tons«

Ich wünsche uns allen mehr Gelassenheit, die Absicht verstehen zu wollen, ehe wir über die Wortwahl richten.

Als ich bei den Grünen eingetreten bin, lernte ich rasch, wie wichtig der gute Ton ist. Es gibt in dieser Gruppe eine überaus starke Sensibilität für Worte. Da ich reichlich erkenntnistheoretisch vorgebildet bin, weiß ich selbst­verständlich, dass Sprache Wirk­lich­keit prägt. Indes empfinde ich Verwunderung und manchmal auch Verärgerung angesichts eines Mangels an Gelassen­heit hinsichtlich der Sprache.

Ich habe verschiedentlich beobachtet, wie Sprechern – nicht nur mir! – aufgrund ihres an anderer Leute Vorstellungen gemessenen unbedachten oder vermeintlich unreflektierten Sprachgebrauchs lautere Absicht abgesprochen wurde. Es kam mir nicht selten so vor, als eröffne Sprachkritik eine wunderbar preiswerte Möglichkeit, andere zu drangsalieren und sich nicht weiter mit ihnen aus­einander­setzen zu müssen.

Ich lernte also, dass man sich große Mühe geben sollte, mit Umsicht die richtigen Worte zu wählen, um nicht in Scharmützel über Neben­themen hineingezogen zu werden, die man weder gemeint hat, noch die überhaupt in Frage stehen.

Wenn man einen idealen Sprachgebrauch favorisiert, der bewusst auf insbesondere diskriminierende Sprache verzichtet und auch Begriffe vermeidet, deren Bedeutungs­gehalt historisch in Teilen der Zuhörer­schaft anders aufgeladen ist, als es Sprecher möglicherweise im Lauf ihres Lebens mal anders gelernt haben, und man dringt darauf, diesen idealen Sprachgebrauch durchzusetzen, dann erschwert man das Gespräch absichtlich oder unabsichtlich.

Dieses, aus meiner Sicht manchmal verkrampfte Verhältnis zur Sprache, finde ich nun vor allem deshalb bemerkenswert, weil es andererseits eine ganze Menge echter Probleme und Interessen­konflikte zu bearbeiten gibt. Hier nun aber empfinde ich eine merk­würdige Zagheit. Wenn man keinen Konflikt in Sachen Sprache scheut, läuft man Gefahr, Anstelle von Problemen eher Fragen der Zulässigkeit ihrer Formulierung zu behandeln.

Ich wünsche uns allen mehr Gelassenheit, die Absicht verstehen zu wollen, ehe wir über die Wortwahl richten.


Über den Autor

Florian Dieckmann schreibt unter anderem im Fediverse unter dem ActivityPub-Handle: @plinubius@chaos.social. Dieser Beitrag ist dort erstmals am 17. Oktober 2025 erschienen.

Plinubius. Zum Phänomen des »guten Tons« (Diskussion im Fediverse) 🌐