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Vom Kanal zum Flussraum
Überlegungen zu einer zeitgemäßen Flussraumgestaltung
Ich kenne Hitzeinseln nur vom Hörensagen. Eventuell liegt es an den großen Grünanlagen im Bundesländerhof, wo ich wohne, oder an der nahen (1 km entfernten) Alten Donau, aber bei mir kühlt es in der Nacht ordentlich ab.
Erinnern wir uns an das Foto der Alten Stubentorbrücke im Artikel über die Geschichte des Wienflusses:
In der Bildbeschreibung war zu lesen:
Wir spüren förmlich die Kühle und Ruhe, welche von einer Flusslandschaft mitten in der Stadt ausgehen könnte. Ihre Qualitäten im heute vorhandenen Kanal erlebbar zu machen, ist freilich eine Herausforderung.
Dieser Herausforderung wollen wir uns mit diesem Artikel einmal annähern. Denn ja, es ist eine Herausforderung, aber noch viel mehr: Es ist die Chance, mit einer Neugestaltung dieses Rinnsals gleich mehrere wichtige Ziele verwirklichen zu können.
Im Zuge der Recherchen zu den vorangehenden Artikeln hab ich natürlich auch viel mit Menschen gesprochen, die sich mit der Gestaltung von Fließgewässern professionell befassen. Der auch als „Mastermind der grünen Donauinsel“ letzthin durch einige Zeitungsartikel mir bekannt gewordene Bruno Domany hat sich viel Zeit genommen, um sein Wissen und seine Erfahrung mir mir zu teilen. Aus diesen Gesprächen ist unter anderem der folgende Text hervorgegangen.
Zeitgemäße Flussraumgestaltung an der Wien
Vorweg, „Renaturieren“ im üblichen Sinn können wir die Wien leider nicht mehr: Der Umgriff Umgriff meint den gewässerbegleitenden Landstreifen bis zur Hochwassermarke. Er weist in der Regel unterschiedliche Korngrößen auf (Schluff, Feinsande, Schotter), fällt je nach Wasserstand zeitweise trocken oder ist überflutet und ist Lebensraum für unterschiedlichste Tiere und Pflanzen. eines natürlichen Flusses – Böschungen mit unterschiedlicher Neigung, Bepflanzung, Bäume – ist in dem viel zu engen, rechteckigen Profil, das Otto Wagner für die einstmals hunderte Meter breite Wien übrig gelassen hat, nicht realisierbar. Fraglich ist auch, ob es – obwohl aus ökologischer Sicht wünschenswert – hier sinnvoll ist, die (Beton)Sohle aufzubrechen, durch Sohlgurte Sohlgurte, auch Sohlschwellen genannt, sind quer zur Strömungsrichtung eines Flusses verlaufende Steinaufschüttungen, Pfahlreihen oder Betonschwellen, die verhindern, dass das Gewässer sich eingräbt. zu ersetzen: Bei Niedrigwasser führt die Wien derzeit nur 0,2m³/s – 20 Gießkannen voll, bei Hochwasser etwa die 2000-fache Menge, etwa 400m³/s. Der Klimawandel wird die Extremwerte verschärfen.
Aus der Unmöglichkeit einer Renaturierung folgt aber nicht, dass gar nichts gemacht werden kann. Ganz im Gegenteil, für die Wiener Bevölkerung wäre die Wiederherstellung eines Flussraumes hochinteressant, wir sollten und können auch aus dem Kanal wieder einen Flussraum machen.
- Grüne Inseln im Betonbett neben dem „Wiental-Radweg“ in Hütteldorf. Doch … Dann könnten wir den Hitzestau verhindern, zumindest wesentlich verringern durch Wiederherstellung eines Flussraumes, der diesen Namen auch verdient: Die Schaffung eines ständig vorhandenen Wasservolumens durch Aufstau – wie es früher ja auch vorhanden war – samt begrünten Mauern verhindert das Aufheizen des Betons am Boden und den Wänden des Kanals und erzeugt zusätzlich Verdunstungskälte;
-
… in Hietzing
ist der Weg zu Ende.
dann könnten wir zumindest mithelfen, dass nachts frische Luft vom Wienerwald in die Innenstadt strömt, wenn das dann kühlere Flussbett nicht mehr als ungewollter Hitzespeicher fungiert;
Tagsüber werden dort über 50°C gemessen, bis in der Früh „kühlen“ die Wände auf 25°C ab, was natürlich noch immer viel zu heiß für eine Frischluftschneise ist. - Thermalfotos zeigen, wie heiß – über 50°C – die Steinwände werden. Wienflusskanal – ein toter Raum Keine Wunder – es dominieren Beton und dunkler Stein. dann könnten wir die Lebensqualität für zehntausende Menschen im 14., 15., 12., 6., 5. und 4. Bezirk entscheidend verbessern, durch geöffnete Fenster könnten die heißen Wohnungen und Arbeitsplätze abkühlen, statt dass Tag und Nacht energiefressende und leider auch Wärme erzeugende Klimageräte (die sich viele in Anschaffung und Betrieb gar nicht leisten können) betrieben werden;
- dann könnten wir den mit Grünflächen extrem schlecht versorgten Bewohnern einiger der oben genannten Bezirke Aufenthalt am Wienflussufer, in kühler, frischer Luft inklusive Naturerlebnis bieten – vor der Haustüre, erreichbar ohne Benützung von Verkehrsmitteln, also verkehrsvermeidend: für die ganz Kleinen im Kinderwagen; für die Älteren, von Schmerzen in den Gelenken Geplagten, auf Rollator oder Rollstuhl Angewiesenen; und für die Jugendlichen und Sportlichen, die raumgreifend und gesundheitserhaltend oder einfach nur aus Freude an der Bewegung wandern, skaten, radeln wollen – vom Donaukanal bis in den Wiener Wald – lieber abseits von Lärm, Abgasen, staubiger Luft, ohne alle 100m durch Kreuzungen, Ampeln aufgehalten, im Rhythmus gestört zu werden;
- dann könnten wir vielleicht wieder Fische und Krebse – so wie seinerzeit – in der Wien in Wien beobachten, erhaschen – nicht nur vor der Stadtgrenze, wo ja noch Fischereikarten ausgegeben werden, wenn wir ihnen geschützte Rückzugsräume anbieten könnten.
Was tun?
Um die oben genannten Ziele Stück für Stück erreichen zu können, liegen zahlreiche Ideen schon am Tisch. Diese möchten wir in Folgeartikeln genauer vorstellen. Vorweg sei so viel verraten: Wien hat mit der Donauinsel Pionierarbeit geleistet und wird dafür bis heute bewundert (siehe Artikel der Washington Post). Der Wienfluss könnte eine ähnliche Erfolgsgeschichte werden, wenn auch die Voraussetzungen und Ziele diesmal etwas andere sind. Beim Wienfluss würde eine bestehende Hochwasserschutzanlage umgebaut werden, die Donauinsel und die Neue Donau hingegen waren ein Neubau.
An dieser Stelle noch ein Hinweis: Dieser Artikel ist Teil der →Wienfluss Serie, deren vorhergehenden Teile für das Verständnis der hier geäußerten Überlegungen äußerst hilfreich sein dürften.
Was jeder Einzelne jetzt schon tun kann!
📣💚☝️ Die Wien wird von breiten Teilen der Bevölkerung kaum wahrgenommen und wenn, dann als Rinnsal in einem kurios überdimensionierten Flussbett. Ein vertieftes Wissen um die Hintergründe und Geschichte dieses „vergrabenen Schatzes“ wäre dessen Reaktivierung als Quell der Freude und Kühlung höchst zuträglich. In diesem Sinne darf ich einladen, den Link zur →Wienfluss-Serie auf allen verfügbaren Plattformen zu teilen und so dazu beizutragen, eine breite Debatte darüber anzustoßen, wie dieser Schatz denn am besten zu heben sei.
Quellen
FALTER 35/22: Insel der Seeligen
Kurier vom 20.08.2022: „Lieber krumm als gerade“. 50 Jahre Donauinsel
The Washington Post, October 30, 2021: In Vienna, a visionary example of dealing with urban floods
Bildnachweise
Moriz Nähr (Fotograf), 1., Wienfluss - Alte Stubentorbrücke (Jahresprämie 1903 der Wr. Photographischen Gesellschaft), 1903 (Herstellung), um 1890 (Aufnahme), Wien Museum Inv.-Nr. 34180, CC0
Ferdinand Weckbrodt (Künstler), Ansicht des Wehr im Wienfluss oberhalb der Pilgrambrücke (Ausschnitt), 1884, Wien Museum Inv.-Nr. 312, CC BY 4.0
Infrarotfotos 28. Juli 2021 – MA 22 Dipl.-Ing. Jürgen Preiss
Wientalradweg bei Hietzing – Johannes Ortner, https://www.flickr.com/photos/j_ortner/27130028268
Sonstige Farbphotographien Ingo Lantschner, August 2022
Dieser Artikel ist Teil der
Serie Wienfluss
- 28.07.2022
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